„Kein Platz in der Herberge“ oder: Raum schaffen für das Wesentliche?
Die unfreiwillige Reise war geprägt von Ungewissheit und Sorgen. Und das mulmige Gefühl verschwindet auch nicht, als Maria und Josef kurz vor der Geburt ihres Kindes endlich erschöpft in Betlehem ankommen. Denn sie werden abgewiesen – in der eigenen Heimat! Alle Herbergen und Betten sind belegt, weil auch andere Menschen berechtigte Bedarfe haben und ihnen dieselbe unfreiwillige Reise noch in den Knochen steckt.
Wir alle kennen die menschlichen Gefühle von aufkeimender Panik und Angst so gut, dass wir schnell ausschmücken können, was Lukas 2,7 nur ganz knapp anklingen lässt: „Kein Platz in der Herberge“ zu finden, ist vermutlich auch deshalb über die Jahrhunderte zum Sprichwort geworden.
Zwischen den Zeilen erzählt sich hier die Geschichte von einem versteckten Helden: Wer hat Maria und Josef eigentlich den Stall gezeigt? Unter all den Menschen in den Herbergen Betlehems, die nicht bereit waren, ihr (in der „Hauptsaison“ vermutlich überteuertes) Zimmer zu teilen, und unter allen Gastwirten, die gerade in ihrer Arbeit erstickten, scheint es diesen einen Visionär gegeben zu haben, jemanden der es wagte, im Horizont des offensichtlichen Platzmangels out-of-the-box zu denken: Da ist doch noch Raum… Es ist zwar kein Gasthaus. Es ist nicht einmal ein Haus. Aber es ist ein Raum. Den Raum kann ich euch geben. Die Hoffnung: Da geht noch was!
Diese unerwähnte Heldin (Wir nehmen einmal an es war eine Frau – Ein Mann wäre von den antiken Geschichtsschreibern sicherlich erwähnt worden!) verleugnete nicht die Realität – aber sie ist auch nicht in konservativen Denkmustern über den vorhandenen Raum geblieben. Und sie hat damit einen kleinen Raum geschaffen, aus dem etwas ganz Großes erwachsen konnte!
Das ist die adventliche Willkommenskultur, die wir uns am Evau wünschen: Persönlich wie (schul-)programmatisch:
„Neuen Raum“ für Menschen, die unsere Schulgemeinde bereichern, schaffen wir jährlich mit jedem einzelnen Jahrgang in unseren Gebäuden und unseren Herzen; in diesem Jahr aber sogar auf zwei ganz besonderen Positionen: Die neue Superintendentin unseres Schulträgers, Frau Kerstin Grünert, durften wir sowohl im Schuljahresanfangsgottesdienst als auch im Rahmen der Jubiläumsfeier anlässlich des 60-jährigen Bestehens unseres Evaus kennenlernen. Und als neuen Bauingenieur und Gebäudeverwalter haben wir Herrn Tobias Röser willkommen geheißen. Sicherlich, keiner der beiden wird uns Luftschlösser bauen können: Eine dreizügige Schule in einem Gebäude, das ursprünglich auf Zweizügigkeit ausgelegt war, lehrt uns ganz alltäglich mit knappen Ressourcen umzugehen – hier ist ständige Kommunikation und Verabreden gefragt. Gerade weil unser Schulprogramm an vielen Stellen weit differenziert ist, um jedem Einzelnen für seine Persönlichkeitsentwicklung verschiedene Perspektiven zu eröffnen und weil wir keine unserer räumlichen Errungenschaften wie Selbstlernzentrum oder Übermittagsbetreuung werden zurückbauen wollen, wenn wir ab dem Schuljahr 26/27 aufgrund des dann voll ausgebauten G9 noch drei weitere Klassenräume benötigen. Hier sind noch Visionär*innen gefragt!
Das Jahr 2024 war für uns als Schulgemeinde aber nicht nur geprägt von neu gewonnenen Menschen, sondern auch von tragischen Verlusten. Der Tod unseres Schülers Enke (8. Klasse) Ende November macht uns noch immer sprachlos.
Wir sind in diesen Zeiten räumlich und persönlich enger zusammengerückt, haben den regulären Schulbetrieb eingestellt, Klausur-Termine schulweit abgesagt und haben somit Raum geschaffen für das Wesentliche: Für Andachten, offene Gesprächsangebote, erste kleine Schritte auf dem Weg der Trauerverarbeitung und die heilsame Erfahrung, sich auch in der Sprachlosigkeit von einer großen Gemeinschaft getragen zu fühlen. Hier sei nicht nur die Schulgemeinde, sondern auch das starke Netzwerk mit dem Schulreferat und der Ehe- und Familien-Beratungsstelle des Kirchenkreises und der schulpsychologischen Beratungsstelle im Rücken genannt. Das Gefühl getragen zu sein erwächst auch dem Gemeinschaftsgefühl im Kollegium und den großen und kleinen Hilfen und „Selbstverständlichkeiten“, auch unter den Schüler*innen.
Räume für die Menschen und zur Entfaltung schaffen ist das eine. Nicht weniger häufig empfinden wir den „augenscheinlichen Platzmangel“ aber auch in Bezug auf die bestehenden Strukturen: Manchmal muss man auch die gesamte Herberge umbauen, um Platz für Neues zu schaffen. Neue Ideen und Konzepte entstehen, wenn man mutig „out-of-the-box“ denkt: Unsere Schulentwicklungsgruppe aus engagierten Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen hatte im vergangenen Jahr ein umfassendes Konzept – eingebettet in einem 67.5-Minuten-Stundentakt – erarbeitet, um projektorientiertes Arbeiten und persönlichkeitsstärkende Elemente stärker über sogenannte „Flex-Stunden“ im Stundenplan zu integrieren.
„Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum – wenn viele gemeinsam träumen, dann ist das der Beginn einer neuen Wirklichkeit.“ – Diesen Kanon haben wir im Gottesdienst vor den Sommerferien 2024 gemeinsam gesungen. Zum Jahresende beginnen wir nun schon mit der mehrschrittigen Evaluation des Probe-Schuljahres in diesem Modell. Wir brauchen Träume, um neue Räume zu schaffen. Und wo könnte man das tatkräftige, demokratische Träumen besser erproben, wenn nicht im geschützten Raum der Schule?
Wir wünschen euch und Ihnen eine frohe, von Gottes Frieden erfüllte Weihnachtszeit und ein gesegnetes neues Jahr 2025, sowie den Mut, in einer oft überfüllten Zeit den Menschen und Ideen doch immer wieder kleine Räume zu eröffnen – in denen womöglich Großes entstehen kann.
Beate Binkmann und Thomas Süßenbach