„Es ist meine Pflicht.“ Ohne zu zögern kommt die Antwort von Michaela Vidláková, als sie gefragt wird, ob es ihr schwer falle, von ihren bedrückenden Erlebnissen während der NS-Herrschaft zu erzählen. Es ist nicht der erste Besuch der mittlerweile 80-jährigen Prager Jüdin am evau. Die weit über 100 Schülerinnen und Schüler aus der Jahrgangsstufe 9 und der Oberstufe nimmt sie mit auf eine eindringliche Reise in ihre Kindheit. Eine Reise, die – das ist in vielen Gesichtern abzulesen – nicht kaltlässt, nicht kaltlassen kann.
Der Besuch der jüdischen Zeitzeugin am Donnerstag bildete den Auftakt zu einem Projekttag der Schule am Freitag. Dabei wurde der Holocaust-Gedenktag (am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit) mit dem Brundibar-Projekt verknüpft. Alle Schüler arbeiteten in ihren Klassen bzw. Kursen an einem Thema, das sich mit der nationalsozialistischen Herrschaft und dem damit einhergehenden Völkermord an den Juden auseinandersetzte. Die Musiker und Darsteller von „Brundibar“ nutzten derweil die Zeit zum Proben – Ende März wird das im Konzentrationslager Theresienstadt entstandene Musical aufgeführt.
Doch zurück zu Frau Vidláková. Auch sie verbringt einen Teil ihrer Kindheit in eben jenem Theresienstadt, das für viele tschechische, aber auch andere europäische Juden als Durchgangsstation dient, bevor es zum Weitertransport in die Vernichtungslager geht. Zunächst erzählt sie aber von den Jahren nach dem Einmarsch der Deutschen in Prag. Im März 1939 wird das heutige Tschechien zum Protektorat Böhmen und Mähren. Für die jüdische Bevölkerung beginnt die Zeit der Ausgrenzung, der Entrechtung, der Stigmatisierung. Eine Zeit der Entbehrung, in der die kleine Michaela ihre Spielkameraden, die Familie Vidláková ihre Wohnung und sämtliche Juden durch immer neue Schikanen ihre Würde verlieren.
Dann führt 1942 der Weg nach Theresienstadt. Ein Holzspielzeug, ein Hund, den der Vater für seine Tochter bastelte, wird für die Familie vermutlich zum Lebensretter. Er dient bei der Ankunft als Beleg dafür, dass Michaelas Vater als Zimmermann arbeitet, wie er gegenüber der SS-Verwaltung fälschlicherweise angibt. Und Zimmerleute werden im Lager gebraucht.
Das Lagerleben ist hart, die Gebäude und Wohnräume völlig überfüllt, die Essensrationen so, dass es gerade zum Überleben reicht. Und immer droht der Weitertransport, von dem man zwar nicht weiß, wohin er führt, der aber auf keinen Fall Gutes verspricht. Für die Sechsjährige gibt es dennoch schöne Momente. Ihre freundliche Aufnahme in die Kindergruppe zum Beispiel, in der sie endlich wieder Spielkameraden findet. Oder die Freundschaft zu einem jüdischen Jungen aus Berlin, den sie auf der Krankenstation kennenlernt. Vom ihm lernt sie die deutsche Sprache, sie selbst bringt ihm Tschechisch bei.
Ende 1944 wird das Glück der Familie noch einmal strapaziert. Der Vater ist zum Weitertransport vorgesehen und wartet schon mit den anderen erwachsenen Männern auf den Zug. Dann werden aber Freiwillige für einen Sondereinsatz gesucht – ein Sturm hat ein Dach abgedeckt. Er meldet sich, und als er zurückkommt, ist der Zug bereits abgefahren. Eine Episode die verdeutlicht, was Frau Vidláková meint, wenn sie das Überleben des Holocausts mit dem Gewinn in einer Lotterie vergleicht.
Rund anderthalb Stunden dauert der Vortrag der Zeitzeugin, Fragen der Schüler schließen sich an. „Ihr seid nicht verantwortlich für die Vergangenheit, aber ihr werdet verantwortlich für die Zukunft sein“, gibt sie ihrem jungen Publikum mit auf den Weg. Es ist ein Appell, es nicht bei der Erinnerung zu belassen, sondern aktiv zu werden, etwas zu tun, damit das Vergangene nicht wieder passiert. Es ist der Grund, warum sie seit Jahrzehnten vor Schülern und anderen Zuhörern von ihren Erlebnissen berichtet.